Wieviel Internet ertragen wir?

Zu Internet und Internetkonsum haben sich bislang nur wenige kritische Stimmen erhoben. Mehrheitlich werden die Vorteile gelobt, Effizienzsteigerung und veränderte Lebensweisen mit mehr Freizeit und Möglichkeiten persönlicher Entfaltung. Neuere Studien lassen aufhorchen – vielleicht sollten wir etwas genauer hinschauen und Strategien entwickeln, wie Kinder, Jugendliche und wir selber einen guten Weg mit dem Internet finden.

Neue Technologien riefen schon immer kritische Stimmen hervor. Nach der Erfindung der Eisenbahn warnten viele vor den Folgen des schnellen Reisens (damals maximal 50 Stundenkilometer) – dies führe zu Kopfschmerzen, Schlaflosigkeit und vorzeitigem Tod. Zudem werde Milch sauer, wollte man sie mit dem Zug befördern. Heute rasen wir mit dem Zug innerhalb von knapp dreissig Minuten unter den Alpen hindurch.

Kommt nach der Euphorie die Ernüchterung?

Wer bis vor einigen Jahren in solcher Eindringlichkeit vor den Gefahren des Internets warnte, wurde oft ähnlich belächelt wie einst die Warner vor der Eisenbahn. Mit dem Internet scheint es nun genau umgekehrt zu laufen: die Euphorie und Goldgräberstimmung scheint einer Ernüchterung zu weichen. Denn neuere Forschungsergebnisse lassen aufhorchen und sollten ernst genommen werden. Zugegeben, ihr Blick ist auf den schwierigen Teil des Internetkonsums gerichtet und mag daher etwas einseitig erscheinen – dennoch sollten Mary Aikens Ausführungen in ihrem Buch „Der Cyber-Effekt“ ernst genommen werden.

Sucht mit gravierenden Folgen

Die Psychologin mit Forschungsschwerpunkt in der Cyberpsychologie fasst die wichtigsten Erkenntnisse aus der Forschung zusammen und präsentiert eine geballte Ladung an kritischen Punkten, was übermässigen Internetkomsum und dessen Folgen anbelangt:

  • Eine zunehmende Anzahl Eltern vernachlässigt aufgrund überbordenden Internetkonsums ihre Kinder
  • Jugendliche entwickeln aufgrund ihrer Abhängigkeit vom Internet aggressives Verhalten – auch als Ausdruck ihrer Hilflosigkeit
  • Offline abnormes Verhalten wird online normal
  • Cybersex ersetzt den realen Sex immer öfter bei Männern, zunehmend auch bei Frauen
  • Das normalerweise im Kontext von sozialen Kontakten geprägte Selbstbild kann bei Jugendlichen mit starkem Internetkonsum einem durch soziale Medien geprägten narzisstischen Abbild weichen - verbunden mit grosser Abhängigkeit von Likes ("gefällt mir"). Dislikes ("gefällt mir nicht mehr") haben mitunter gravierende Folgen, bis hin zum Suizid. Die Anfälligkeit für Mobbing ist hoch
  • Cybersüchtige Jugendliche neigen gemäss mehrer Studien stärker zu Schlaf-, Angst- und Essstörungen sowie Depressionen

"Das Internet ist nichts für Kinder"

Dies ist nur eine Auswahl an Ergebnissen aus der Forschung. Nach Meinung der Autorin ist das Internet nicht für Kinder geeignet und digitale Gadgets für Kinder unter drei Jahren seien schlicht tabu. Jedes digitale Display sei entsprechend von Kindern so konsequent fernzuhalten wie Medikamente oder Waschmittel. Denn gerade in den frühen Lebensjahren können ihrer Meinung nach die Weichen für den späteren Internetkonsum gestellt werden, worauf die Forschung ebenfalls Hinweise gibt.

Riesiges Experiment mit ungewissem Ausgang

Aikens konstatiert, dass die gesamte Gesellschaft auf allen Kontinenten einem riesigen Experiment mit ungewissem Ausgang ausgesetzt ist. Einiges weist ihrer Meinung nach darauf hin, dass es kein gutes Ende nehmen wird. Es sei denn – und das ist aus ihrer Warte nur konsequent – das Internet werde reguliert: Smartphones dürften an unter Dreizehnjährige nicht mehr abgegeben und die Internetkonzerne müssten zur Verantwortung gezogen werden für die Folgen übermässigen Internetkonsums.

China als Vorbild?

Macht es China vielleicht doch besser mit dem Internet als wir? Aikens stellt diese provokative These in den Raum. Einer gewissen Steuerung durch den Staat gegenüber scheint sie jedenfalls nicht abgeneigt, wenn dadurch die Konsumenten besser geschützt werden könnten - auch vor sich selber.

Zugfahren ist harmlos, das wissen wir heute. Beim Internet sind wir nicht mehr so sicher. Nach Lektüre des Buches jedenfalls kann einem beim Blick aufs Smartphone schon ein etwas schales Gefühl beschleichen.

Mary Aiken ist Cyberpsychologin und beriet als Direktorin des CyberPsychology Research Network das FBI und Interpol. Ihre Arbeit war Inspiration der Fernsehserie CSI: Cyber.

Aiken, Mary: Der Cyber-Effekt; Wie das Internet unser Denken, Fühlen und Handeln verändert
Fischer Taschenbuch, 2018

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